Sinking Cities
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Venedig

„Alle Städte sind gleich, nur Venedig is a bissele anders“, Friedrich Otoberg

 

Eine Stadt im Nordosten Italiens, welche sich innerhalb der Lagune von Venedig sowohl auf dem Festland, als auch auf den 118 Inseln[1] verteilt. Die Stadt nimmt eine Gesamtfläche von 41 450 Hektar ein, wovon 25 770 Hektar innerhalb der Lagune auf den Inseln liegen. [2] Im Jahr 2012 bevölkerten circa 269 810 Menschen die Stadt, etwas weniger als 1/5 verteilen sich auf das historische Zentrum und die größeren bewohnbaren Inseln in der Lagune. Zu den wichtigsten Einnahmequellen der Stadt zählen der Tourismus des historischen Zentrums und die auf dem Festland betriebene Industrie.[3] Darüber hinaus zählt Venedig gemeinsam mit der Lagune zum UNESCO Weltkulturerbe.

 

Als Geburtstag Venedigs gilt der 25. März 451 v. Chr., als die von Attila geführten Hunnen über die Apenninen-Halbinsel herfielen, die Festung Aquileia zerstörten und die Überlebenden zwangen, auf den Laguneninseln Zuflucht zu nehmen. Zuvor lebte auf diesen Inseln ein alter slawisch illyrischer Stamm, der 42. v.Chr. in das Römische Reich eingegliedert wurde. Die neuen zugezogenen Siedler verteilten sich auf die verschiedenen Inseln in der Lagune.[4] In den Jahrhunderten nach ihrer Gründung nutzte die Lagunensiedlung ihre geografische und politische Lage zwischen den Großmächten geschickt aus und entwickelte sich zu einer starken Handels- und Seemacht. Im 11. Jahrhundert stieg die Handelsmacht zur unabhängigen Republik auf und konnte sich dank ihrer erkämpften Monopolstellung im Fernhandel und politischen Souveränität zu einem Zentrum der Kunst und Wissenschaft entwickeln. Unter ökonomischem Druck entwickelte sich auch der Ausbau der Stadt mit weiterer Landgewinnung und Trockenlegung einiger Sümpfe in der Lagune und einer zeitweisen Bevölkerung von 180 000 Menschen die sie zur größten Stadt Europas machten. Erst mit dem Bedeutungsverlust alter Handelsrouten und dem Wegfallen von einstigen Handelsprivilegien im 17. Jahrhundert verlor Venedig seinen überregionalen Einfluss und wurde zu einer Lokalmacht. Die Selbstständigkeit endete mit der Eroberung der Stadt 1797 durch die Franzosen unter Napoleon Bonaparte.[5] Schließlich findet Venedig 1866 in dem neu gegründeten Königreich Italien ihren Platz.[6]

 

Die Stadt liegt auf mehreren großen Inseln in der 56,6 km auf 9,6 km breiten Lagune, welche durch drei Nehrungen vom Meer befahren werden kann: Porto di Lidio, Porto di Malamocoo, Porto di Chioggae.[7] Weiter müssen circa 20% der Lagune durch Dämme gegen das Wasser geschützt werden. Insgesamt weist die Lagune 118 Inseln auf, von denen der historische Stadtkern auf einigen der größeren zentralen Inselgruppe liegt. Dieser ist seit dem Bau einer Eisenbahnbrücke 1846 zum ersten Mal mit dem Festland verbunden. Die Brücke hat 210 Bögen und ist etwa 3,6 Kilometer lang. Der Aufbau des Stadtkerns war durch jede separate Insel und ihre spezifischen Funktion bestimmt, auf der je nach Größe ein zentraler Platz als Kommunikations-, Verkehrs- und Handelsknotenpunkt diente.

 

Diese Stadtstruktur verlor aber mit der Nachverdichtung der Stadt und Bebauung der Plätze ihre Rolle. Durchzogen werden die Inseln von 175 Kanälen mit einer Gesamtlänge von 37km, welche die Lebensadern für Verkehr, Warentransport und die Kommunikation Venedigs bildeten und unabdingbar für die Hygiene der Stadt sind. Der Canale Grande bildet hierbei die Hauptwasserstraße und durchzieht das Zentrum in einer vier Kilometer langen S-Kurve mit Breiten zwischen 40 und 70 Metern. Abgesehen von den Hauptkanälen wurden jedoch ab dem 18. Jahrhundert starke Veränderungen an den Kanälen und ihren Funktionen durch Aufschüttungen vorgenommen und ihre Pflege bis 1990 stark vernachlässigt.

 

Insgesamt ist die Stadtstruktur Venedigs von der zwiegespaltenen Symbiose zum Wasser bestimmt. Die venezianischen städtebaulichen Handlungen in diesem Spannungsfeld haben aber dadurch einen einzigartigen Organismus herausgebildet, in dem immer wieder das Verhältnis von Gebauten zum Wasser neu ausverhandelt werden musste.[8] Obwohl niemals ein einheitlicher Plan befolgt wurde, überwogen seit dem 13. Jahrhundert die gemeinsamen Interessen und Notwendigkeit zu Ausbau, Pflege und Erhalt des Stadtkörpers gegenüber den Einzelinteressen von Bauherren. In dieser Kontinuität wurde die Stadt im Wasser seit dem Hochmittelalter oft als ein einziger Stadtkörper, in dem die Kanäle die Blutbahnen bilden beschrieben. Trotz der übergeordneten Homogenität des gesamten Stadtkörpers entstand im Inneren Venedigs eine urbane Unvorhersehbarkeit, die der Enge der verschiedenen Programmatiken und den Unterbrechungen durch die vielen Kanäle geschuldet war. Hier bildet die Architektur der circa 200 Adelspaläste entlang des Canale Grande das entsprechende Sinnbild. Die im 12. und 13. Jahrhundert begonnene Erschließung der Uferfront des großen Kanals, gliedert den großen Kanal in das Stadtbild ein und schafft die Möglichkeit einen urbanen Laufsteg entlang der Uferkante auszubilden. Die gemeinsame zweigeschossige Typologie der Paläste, die im Erdgeschoss einen Arkadengang formt, ist durch unterschiedliche Stile wie dem Byzantinischen, solche der Romanik und Gotik oder der Renaissance unterschieden. Die Konstruktion und Typologie der Adelspaläste ist aber als eine „endogene“ Baukunst, aus der Notwendigkeit ihres Baugrundes heraus entstanden.[9]

 

So sieht man entlang des Canale Grande, als urbanes Rückgrat, dass sich die wiederholende Materialität und Farbigkeit durchzieht, die das Bild der Stadt bestimmt, aber immer wieder von den Kanälen getrennt und über 400 Brücken verbunden wird.[10] Diese Dichte schafft eine räumliche Intensität und Kontinuität, welche nur von den kleinen urbanen Frakturen– den Plätzen und Brücke, überhaupt differenziert werden kann. Dadurch aber entstehen auf diesem engsten Raum Unvorhersehbarkeit als Charakteristikum der Stadt.[11] Diese städtische Heterogenität, an deren Planung viele moderne Städtebauer scheitern, gelingt Venedig aus einem urbanökonomischen Zwang.Ein übergeordnetes Ideal (città ideale) kann in Venedig(città real) nicht gefunden werden, aber in ihrer undurchdringlichen Komplexität erlebt .

 

„Gerade an den Plätzen zeige sich, so Huse, dass in Venedig alles bereits im Überfluss vorhanden ist, „was die Stadtkritik des späteren 20. Jahrhunderts [...] forderte“: „Struktur und Identität, Bildhaftigkeit und Grenzlinien, Wege, Brennpunkte und Merkzeichen, Dichte und Weite, Richtungsdifferenzen und Wiederholungen, Farbigkeit und ortsspezifische Materialien, Vielschichtigkeit und Bildkraft.“ [12]

 

Die Methoden zur Landgewinnung und Gründung der Gebäude haben sich über die Jahrhunderte nicht geändert. Ganz Venedig steht auf Pfählen, die bis zu drei oder zehn Meter tief in den weichen Boden eingesetzt werden. So können manche Brücken der Stadt auf bis zu 12.000 und Gebäude auf mehreren Millionen solcher Pfähle stehen. Dieser dichte künstliche Stützenwald hält zunächst eine Plattform aus Eichen- und Lärchenbohlen. Dieser sogenannte Zattaron funktioniert wie ein Ponton, auf dem die Steinfundamente und schließlich das oberirdische Mauerwerkgehalten werden. Die Fußböden, die auf den Steinfundamenten aufliegen, müssen den besonders feuchten Bedingungen speziell angepasst werden, was zu einer einzigartigen Entwicklung der Böden geführt hat. Über den Unterboden aus Holz wird eine Mischung aus Kalkmörtel und zerbröseltem Ziegelsteinen zu einer 40 Zentimeter dicken Schicht gegossen. Dieser ist aufgrund seiner Materialheterogenität für große Verformungen, welche bei dem Abtrocknen entstehen können, bestens angepasst. Weiter sind die Außenwände vom Innenausbau entkoppelt und bilden so eine separate statische Einheit, die flexibel auf diesen dynamischen Untergrund der Lagune reagiert. Und um diesen möglichst wenig zu belasten sind die meisten Gebäude aus Hohlziegeln erbaut, den Mattoni.[13]

 

Trotz der zahlreichen Gelder und Hilfsprogrammen zur Erhaltung und Restaurierung der Stadt befinden sich viele der alten Gebäude des historischen Kerns in schlechtem Zustand. Gründe dafür liegen in den steigenden Umwelt- und Industriebelastungen, den sich häufenden jährlichen Überflutungen (Acqua alta), oder der Abwanderung ihrer Bewohner. Viele der unteren Geschosse sind somit nicht mehr bewohnbar. Weiter transformiert sich das Bild des neuen Venedigs durch die Hochwasserschutz-Architektur, kleineren und größeren Ausmaßes. Wenn man von einer einstigen Homogenität des venezianischen Stadtbildes gesprochen hat, so muss man für das moderne Venedig die mehrstöckigen Kreuzfahrtschiffe in die urbane Silhouette genau so mit einzeichnen wie einst die herausragenden Kirchentürme aus der sonst niedrigen Bebauung.[14]

 

Das Entstehen der Lagune von Venedig geht auf Sedimentablagerung der in die Bucht mündenden Flüsse vor etwa 6000 Jahren zurück, welche mit der Zeit den Nehrungsreifen, der die Lagune bis heute vom Mittelmeer abtrennt, aufschichtete(Lidi). Jedoch wurden diese natürlichen Phänomene schon bald von anthropogenen Raumeingriffen überlagert. Aber auch ohne diese meist unvorhersehbaren menschlichen Eingriffe bleiben Lagunen aus ihrer geomorphologischen Gegebenheit heraus, permanenten Dynamiken unterworfen. Selbst die Lagunen als System, ist nur ein Stadium zwischen Landentstehung oder dem Absinken zu einer Meeresbucht.[15]

 

Deshalb schon befindet sich Venedig als Stadt in einer schwierigen oder anders gesagt besonderen Ausgangssituation. Die momentan messbare Absenkung der Oberfläche der venezianischen Inseln im Verhältnis zum Meeresspiegel deutet immer mehr auf die Bildung einer Meeresbucht hin. Die aufeinanderfolgenden Torfschichten, die den Untergrund der Lagune ausmachen, erstrecken sich über eine Gesamttiefe von 130 Metern. Diese Torfschichten unterliegen aufgrund ihrer geringeren Dichte einer natürlichen Nachverdichtung welche mehrere Millimeter im Jahr betragen kann. Beschleunigt werden kann das durch den Anstieg des Meeresspiegels, welcher als weiteres Gewicht fungiert. Die Messdaten für die venezianische Lagune gehen auf 1908 zurück, in der die Sinkgeschwindigkeit nur geringe Werte von ca. 1mm pro Jahr betrugen, die sich aber erhöht haben, verglichen mit neueren Messungen von 1942 (2,3 mm), 1961 (5,1mm) und den heutigen Messungen, die sich auf bereits nahezu 10 bis 15 mm belaufen.[16][17][18]

 

Anzeichen für das allmähliche Versinken können an manchen Gebäuden bereits abgelesen werden, bei denen Eingangsportale oder Säulen abgesunken sind.[19] Es besteht die geologische Hypothese nach Bankowski von 1976, dass sich ganz Norditalien unter intensiven neotektonsichen Veränderungen seit dem Mittelalter befindet und es auch zu Festlandabsenkungen kommen könnte.[20] Der Prozess des Absinkens der Stadt wird zudem durch Abpumpen des Grundwassers und der gestiegenen Gewichtsbelastung durch Industriebauten wie den Hafenanlagen beschleunigt.[21] Kumulativ bedroht der durch den Klimawandel ansteigende Meeresspiegel nicht nur die Gebäude und Infrastruktur, sondern auch das gesamte Ökosystem der Lagune. Der erhöhte Wasserpegel bewirkt Erderosionen an der nördlichen und südlichen Lagunenflanke, die wiederum auf das Tierleben im Wasser Auswirkungen hat.[22] Mit diesen klimatischen Veränderungen haben auch die jährlichen Überflutungen der Stadt chronisch an Intensität zugenommen.

 

Die verheerendste Überschwemmung traf die Stadt im Dezember 1966. Die Vereinigung von zwei Zyklopen rief eine solche Flutwelle nach sich, dass 40% der Stadt unter den Wassermassen versunken ist. Der Wasserpegel stieg auf 194 Zentimeter über Normalnull an und setzte die Existenzberechtigung der Lagunenstadt in Frage, die von einer breiter internationalen Hilfsbereitschaft beantwortet wurde.[23] Hatte diese Flutkatastrophe die Weltöffentlichkeit für das Problem Venedigs empfindlich gemacht, nutzten die Berichterstatter diese neuzeitliche Gelegenheit aus um den Kampf der Bewohner gegen die Natur für eine apokalyptische Aura der Stadt auszunutzen zu vermarkten.[24]

Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass man über die Lagune sagt, sie habe drei Feinde: das Meer, die Erde und den Menschen.[25] Besonders gravierend wurde dies 1488, in Folge einer drohenden Verlandung der Lagune, als man die einmündenden Flüsse in die Adria umleitete und damit immer das natürliche Gleichgewicht störte.[26] Die spätere Industrialisierung der Lagune und die wachsende städtische Entwicklung verschärften die anthropogenen Veränderungen ihrer Umwelt. Denn die Erschließung und der Wachstum des Ortes Margheras, ein Festlandvorort Venedigs, erforderte die Vertiefung der Wasserkanäle, um größeren Frachtschiffen die Durchfahrt zu ermöglichen. Damit waren alle künstlichen Bestandteile künftiger Überschwemmungen vom Menschen entworfen worden, die zusammen mit dem sogenannten Steinkrebs, hervorgerufen durch die giftigen Industrieabgase, an den steinernen Fundamenten ihrer Stadt kontinuierlich nagen sollten.[27]

 

Aber auch gesellschaftliche Veränderungen hatten von jeher die existenzielle Lage der Lagunenstadt immer wieder aus dem Gleichgewicht gebracht. Das in Folge der Industrialisierung erschlossene Festland bot nicht nur neue Arbeitsplätze sondern auch modernere, angenehmere Wohnqualitäten, die das Gleichgewicht zu Gunsten des Festlandes zum allerersten Mal verschob. Durch das Abwandern der Menschen standen viele Gebäude im historischen Stadtzentrum leer und wurden nicht mehr gepflegt oder restauriert, was den Zustand der ohnehin maroden Bausubstanz teilweise bis zum Einsturz brachte. Mit der Flucht auch vor den gestiegenen Preisen innerhalb der von Touristen eroberten Innenstadt, erfuhr die städtische Infrastruktur eine Wandlung, hin zu den Bedürfnissen einer neuen, temporäreren Benutzung der Stadt. So halbierte sich alleine in den vergangenen 43 Jahren die Zahl der Einwohner im Zentrum. Dies veränderte für viele Venezianer die Identität der Altstadt, als pulsierender, urbaner Mittelpunkt hin zu einer „seelenlosen“ Hülle für den Kommerz. Doch auf dieses Geld sind 50% der Einwohner, die direkt oder unmittelbar vom Tourismus abhängig sind auch gleichzeitig angewiesen. Die 63,4 Mio. Touristen, welche jährlich in die Region kommen, von denen wiederum alleine 16 Millionen nach Venedig reisen,[28] bilden zwar einerseits die neue ökonomischen Daseinsberechtigung der Stadt[29] aber auch parallel die Möglichkeit ihres urbanen Untergangs, endend in einem historischen Freizeitpark, welcher wiederum selbst unter circa 58.000 Tonnen Tourismusmüll versinkt.[30]

Aber die Stadt hat sich schon immer, und bis zum heutigen Tage erfolgreich gegen ihr Versinken gewehrt– wenn auch zeitweise mit einem ambivalenten Verhältnis zur Effektivität. Konsistenz zeigte im 14.Jahrhundert ein erster zentraler Plan der venezianischen Republik, der die Stadt vor den Sturmfluten sichern sollte. Mit dem Baubeginn einer der größten Wehranlage ihrer Zeit, wohlgemerkt gegen das angreifende Wasser, und dem institutionellen Ausbau gesetzlicher Regelungen zum Schutz der Lagune, nahmen die Republikaner die Verteidigung ihrer Paläste in die Hand. Überwacht wurden diese Maßnahmen streng vom „Magistrato alle acque institutionen“, der 1505 gegründet wurde und die Kontrolle durch harte Strafen durchsetzen konnte. Als Beispiel wurde demjenigen, welcher einen Deich beschädigte oder zerstörte mit dem „entfernen seines Auges und dem Abschneiden seiner Hand, sowie dem Verlust seiner gesamten Habe“ gedroht.[31][32]

 

Diese ersten und noch relativ einfachen Schutzmauern aus dem 14. Jahrhundert wurden im 18. Jahrhundert durch den bis heute noch erhaltenen Murazzi verstärkt. Die Errichtung, dieser mit Steinplatten bedeckten fünf Kilometer langen Erdaufschüttung, die durch schwere Steinblöcke gesichert wurde, dauerte 39 Jahre.[33] Doch auch diese weiterentwickelten Deiche konnten der Flut 1966 nicht standhalten, weswegen die Ingenieure an weiteren Schutzmechanismen für die Inselstadt überlegen. Besonders neuartige Dammanlagen sollen die Stadt in Zukunft vor Sturmfluten schützen. Auch wenn experimentellere Lösungen mit pneumatischen Ballondämmen oder dem Anheben des gesamten Lagunenbodens durch Bodeninjektionen, wird wohl in Zukunft, vielleicht sogar schon ab 2016, eine riesige hydrotechnische Dammanlage die Postkarten Venedigs schmücken und ein neues technokratisches Stadtbild zeichnen.[34] Diese 1996 beschlossene zukunftsweisende Dammanlage mit dem auf den biblischen Propheten verweisenden Akronym „MO.S.E.S“ (Modulo sperimentale elektromeccanico),[35] soll die Bewohner vom Furchtbild der steigenden Acqua Alta zukünftig befreien. Wie einst Moses das Rote Meer teilte, um das auserwählte Volk zu retten, soll der venezianische MO.S.E.S an den drei Laguneneinfahrten installiert werden. Die auf dem Meeresgrund liegende 600.000 Quadratmeter große Betonkonstruktion soll mit verankerten und beweglichen Klappwehren den Flutschutz bewerkstelligen, ohne dabei die gewinnbringende Kreuzfahrtschiffe bei der Einfahrt zu behindern. Nach aktuellen Schätzungen soll das Projekt mehr als sechs Milliarden Baukosten verschlingen und mit der „Eröffnung“ 2016 jedes Jahr weitere 20 Millionen Wartungskosten aufzehren. Umweltschützer stehen dem großflächigen Flutschutz skeptisch gegenüber und befürchten massive Veränderungen der Lagunenfauna durch das Verhindern eines natürlichen Wasseraustauschs zum Meer. So könnte der Murazzi des 21. Jahrhunderts zu anthropogenen Veränderungen des Ökosystems mit unbekannten Langzeitfolgen für die Lagune und ihren Bewohnern führen, wie bereits das Umleiten der Flüsse im 14. Jahrhundert.[36] [37]

 

Im Kontrast dazu wäre die Reinigung der Kanäle, die Verminderung des Grundwasser-Abpumpens, oder die Reduzierung und Filterung der Industrieabfälle überschaubare und sensiblere Hilfsmaßnahmen, deren Folgen weitaus sicherer kalkuliert werden können.[38][39][40]

Den Problemen des Massentourismus möchten die Bewohner der 1987 zur UNESCO Kulturerbe ernannten Stadt aber auch im Notfall ohne politische Unterstützung entgegen treten.[41] So organisieren sich die Venezianer zur Bürgerinitiativen wie der „40xVenezoa“ oder „NO GRANDI NAVI“, um gegen den täglichen Tumult von bis zu 130.000 Besuchern und ihren Folgen einzutreten. Sie kämpfen für eine Reglementierung der unkontrollierbaren Touristenströme und gegen die riesigen Kreuzfahrtschiffe. Die Stimmen gegen den Ausverkauf ihrer Stadt als Vergnügungspark werden lauter, trotz einiger Gegenstimmen, die um die wegfallenden Arbeitsplätze bangen und ihre wirtschaftlichen Interessen über das urbane Lebensgefühl und die Natur stellen. Der Protest der Einwohner hat trotzdem schon etwas bewirkt: Die Stadtregierung entschied die Einfahrt für Kreuzfahrtschiffe ab April 2014 um 20% zu reduzieren. Nichtsdestotrotz würden immer noch fünf der großen Schiffe gleichzeitig vor Venedig ankern, denn nicht umsonst hat Venedig seine Popularität und Mythos ausbauen können, gerade weil es so gut und einfach ist die Altstadt zu erreichen. Unter diesem touristischen Raubkapitalismus, der Flucht der Einheimischen und einem ökonomisch ökologischem Interessenkonflikt der Politik, könnten die Rettungsaktionen für den fragilen Stadtorganismus zu spät kommen, und nichts als eine „urbane Leiche“ oder freudloses „Veniceland“ zurücklassen, welches allen Grund hätte in der Bedeutungslosigkeit zu versinken.[42] [43] [44]

 

So nimmt in dieser zukünftigen Ungewissheit der Illustrator Antonio Scuratis in dem letztes Kapitel seiner Science-Fiction Serie „ La seconda mezzanotte“ möglicherweise schon die Zukunft voraus: Venedig ist längst untergegangen, von einem chinesischen Mafiakonzern rekonstruiert und zu einem Freizeitpark umgewidmet worden; in den Gassen kämpfen die sterilisierten Bewohner als Gladiatoren für makabre Wettspiele um ihr Leben. Im Umgang mit Stadtraum werden so immaterielle Werte genauso wichtig wie rationale ökonomische Planung und technische Sicherung und Kontrolle.[45]

 

Aber es stellt sich die Frage, ob Venedig jemals in Sicherheit existieren kann oder so erst, aus der territorialen Unsicherheit heraus zu eben diesem spannenden, dynamischen Kulturraum und Stadtraum werden konnte. Alleine das Fundament, der artifizielle Stützenwald (an dem ein natürlicher Wald sein Leben verlor), weisen auf das Verhältnis der Stadt zu ihrem Kontext hin. Was sich zwischen die Stadt und den sumpfigen Morast stellt, in dem es jederzeit zu versinken droht, ist die menschliche Erfindungskraft. Diese hat Venedig erst möglich gemacht und bis jetzt in all den Ingenieurleistungen und politischen Entscheidung Leben eingehaucht, zu dem gemacht was es ist: ein dynamisches brüchiges Kunstwerk, das sich entschlossen gegen jedes Wasser stellt, welches die Erhabenheit der Stadt glätten will.[46] [47]

 

Dieser nach Außen geführte Kampf, setzt sich im Inneren Venedigs fort, in ihrem atomaren urbanen Raum prallen Brüche (Kanäle) und Brücken aufeinander, Wasser gegen die Häuserfassaden, Ökologie gegen Ökonomie und Intensität gegen die Unbewohnbarkeit. So setzt die Stadt sich als Fremdkörper in der Lagune fest, und wie soll sie auch anders als hin und her gerissen sein, wenn selbst die Laguna, als Uneindeutiges „weder dem Land noch dem Wasser angehört“.[48] Und damit erfüllt es alles, was eine „echte“ Stadt benötigt, im Gegensatz zu einer leblosen Utopie, deren versinken durch ihren Raumentzug gerade kein Momentum der Veränderungen umsetzten kann. Foucaults Heterotopie scheint in Venedig erfüllt zu sein, aber nur weil es im Prozess des Versinkens erst diese Gegensätze entwickeln kann. Dieser Untergang ist eine unausweichliche Bewegung, selbst im Ideal ist sie mit eingeschlossen, aber erst im Bezugsystem entsteht die Reibung die realen Raum so ausmacht. In der Leere des Weltraums schwebt man im Equilibrium, und versinkt erst wieder in der Gravitation eines Bezugsystem.

Quellen

[1] Stadtverwaltung Venedig , Internetauftritt (Comune di Venezia)

[2] Stadtverwaltung Venedig , Internetauftritt (Comune di Venezia) http://www.comune.venezia.it/flex/cm/pages/ServeBLOB.php/L/IT/IDPagina/18700 (18.11.2013)

[3] Stadtverwaltung Venedig , Internetauftritt (Comune di Venezia) http://www.comune.venezia.it/flex/cm/pages/ServeBLOB.php/L/IT/IDPagina/18700 (18.11.2013)

[4] Rasumow/Chasin: Versinkende Städte, Verlag Progress, Moskau 1984, S.118

[5] Internetseite: Die Stadt Venedig, Ein Überblick, http://www.geschichte-venedigs.de/venedig.html (14.12.2013)

[6] Rasumow/Chasin: Versinkende Städte, Verlag Progress Moskau 1984, S.120

[7] Rasumow/Chasin: Versinkende Städte, Verlag Progress Moskau 1984, S.121

[8] Norbert Huse: Venedig. Von der Kunst, eine Stadt im Wasser zu bauen, C.H. Beck Verlag , München 2005, S. 7-34, Google eBooks, http://books.google.de/books?id=vb7ACdry8tcC&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false (17.12.2013)

[9] Christian Mathieu: Inselstadt Venedig. Umweltgeschichte eines Mythos in der Frühen Neuzeitseite, Böhlau Verlag Köln, Weimar 2007, S.. 13

[10] Christian Mathieu: Inselstadt Venedig. Umweltgeschichte eines Mythos in der Frühen Neuzeitseite, Böhlau Verlag Köln, Weimar 2007, S.. 31

[11] Christian Mathieu: Inselstadt Venedig. Umweltgeschichte eines Mythos in der Frühen Neuzeitseite, Böhlau Verlag Köln, Weimar 2007, S. 38

 

[12] Norbert Huse: Venedig. Von der Kunst, eine Stadt im Wasser zu bauen, C.H. Beck Verlag , München 2005, S. 35, Google eBooks, http://books.google.de/books?id=vb7ACdry8tcC&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false (17.12.2013)

[13] Rasumow/Chasin: Versinkende Städte, Verlag Progress Moskau 1984, S.122

[14] Wikipedia Artikel: Wasserwege in Venedig, http://de.wikipedia.org/wiki/Wasserwege_in_Venedig (21.12.2013)

[15] Christian Mathieu: Inselstadt Venedig. Umweltgeschichte eines Mythos in der Frühen Neuzeitseite, Böhlau Verlag Köln, Weimar 2007, S. 60

[16] Siegfried Oertwig: Gang durch versunkene Städte, Prisma Verlag,Leipzig 1960, S.128-129

[17] Laura Carbognin / Paolo Gatto / Giuseppe Mozzi: Publicationation n°121 of the International Association of Hydrological Sciences Proceedings of the Anaheim Symposium, December 1970, http://itia.ntua.gr/hsj/redbooks/121/iahs_121_0025.pdf (19.02.2014)

[18] N. Castelletto / M. Ferronato / G. Gambolati / M. Putti / P. Teatini: Can Venice be raised by pumping water underground? A pilot project to help decide, Volume 98, Issue 4, 30 October 2005, Mapping regional land displacements in the Venice coastland by an integrated monitoring system,Pages 403–413, http://www1.gly.bris.ac.uk/bumps/secure/POTW/LiftVenice.pdf (19.02.2014)

[19] Rasumow/Chasin: Versinkende Städte, Verlag Progress, Moskau 1984, S.128

[20] Rasumow/Chasin: Versinkende Städte, Verlag Progress, Moskau 1984, S.130

[21] Rasumow/Chasin: Versinkende Städte, Verlag Progress, Moskau 1984, S.130

[22] N. Castelletto / M. Ferronato / G. Gambolati / M. Putti / P. Teatini: Can Venice be raised by pumping water underground? A pilot project to help decide, Volume 98, Issue 4, 30 October 2005, Mapping regional land displacements in the Venice coastland by an integrated monitoring system,Pages 403–413, http://www1.gly.bris.ac.uk/bumps/secure/POTW/LiftVenice.pdf (19.02.2014)

[23] Rasumow/Chasin : Versinkende Städte. Verlag Progress, Moskau 1984, S.117

[24]Christian Mathieu: Inselstadt Venedig. Umweltgeschichte eines Mythos in der Frühen Neuzeitseite, Böhlau Verlag, Köln Weimar 2007, S. 38

[25] Rasumow/Chasin: Versinkende Städte, Verlag Progress, Moskau 1984, S.122

[26] Christian Mathieu: Beihefte zum Archiv für Luftgeschichte, Hft. 63

[27] Rasumow/Chasin: Versinkende Städte. Verlag Progress, Moskau 1984, S.125

[28] Tourismusstatistiken auf regionaler Ebene : Europäische Union 2011,

http://epp.eurostat.ec.europa.eu/statistics_explained/index.php/Tourism_statistics_at_regional_level/de (03.01.2014)

[29] Rasumow/Chasin: Versinkende Städte, Verlag Progress Moskau 1984, S.132

[30] Josefine Fehr: Venedig. Perle der Adria, http://www.planet-wissen.de/laender_leute/italien/venedig/ (10.01.2014)

[31] Rasumow/Chasin: Versinkende Städte, Verlag Progress Moskau, 1984, S.124

[32] Rasumow/Chasin: Versinkende Städte, Verlag Progress Moskau, 1984, S.121

[33] Rasumow/Chasin: Versinkende Städte, Verlag Progress Moskau, 1984, S.122

[34] Rasumow/Chasin: Versinkende Städte, Verlag Progress Moskau, 1984, S.135

[35] Internetseite: MOSE, To protect Venice and ist lagoon from high waters, http://www.mosevenezia.eu/?page_id=6&lang=en (10.01.2014)

 

[37] Internetseite: Sal.ve. activities for the safeguarding of Venice and ist lagoon, http://www.salve.it/uk/default.htm (16.01.2014)

[38] Rasumow/Chasin: Versinkende Städte, Verlag Progress, Moskau 1984, S.134

[39] Rasumow/Chasin: Versinkende Städte, Verlag Progress, Moskau 1984, S.133

[40] Christian Mathieu: Inselstadt Venedig. Umweltgeschichte eines Mythos in der Frühen Neuzeitseite, Böhlau Verlag Köln Weimar 2007, S. 12

[41] http://www.deutschlandfunk.de/venedig-und-der-

massentourismus.795.de.html?dram:article_id=118915 (17.12.2013)

[42] Dirk Schümer: Der Kreuzzug. Tourismus in Venedig, FAZ online http://www.faz.net/aktuell/reise/nah/tourismus-in-venedig-der-kreuzzug-12667689.html?printPagedArticle=true (12.01.2014)

[43] Rasumow/Chasin : Versinkende Städte, Verlag Progress, Moskau 1984, S.130

[44] Dirk Schümer: Der Tod hat jetzt mal Pause! Venedigs Geschäft mit dem Untergang. FAZ online 2012 http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/venedigs-geschaeft-mit-dem-untergang-der-tod-hat-jetzt-mal-pause-11976350.html?printPagedArticle=true (12.012.2014)

[45] Christian Mathieu: Inselstadt Venedig. Umweltgeschichte eines Mythos in der Frühen Neuzeitseite, Böhlau Verlag, Köln Weimar 2007

[46] Thomas Schmid: Interview mit Bügermeister Massimo Cacciari „ Nichts ist hier natürlich“, Mares No.18, März 2000, https://www.mare.de/index.php?article_id=1003 (16.12.2013)

[47] Thomas Schmid: Interview mit Bügermeister Massimo Cacciari „ Nichts ist hier natürlich“, Mares No.18, März 2000, https://www.mare.de/index.php?article_id=1003 (16.12.2013)

[48] Wiebke Amthor: Heterotopie aus Fakt und Fiktion. Beispiel Venedig, http://www.querelles-net.de/index.php/qn/article/view/779/807 (15.01.2014)